Heute ist ein besonderer Tag. Auch wenn ich am 9.11. schon in Koblenz, also im Westen war, so ist und bleibt es dennoch ein besonderer Tag. Ich kann mich noch erinnern, wir waren gerade nach Koblenz gezogen und sahen fassungslos im TV, was da gerade vor unseren Augen passierte. Es war der Höhepunkt einer nicht endenden Welle von Veränderungen, die das Jahr 1989 mit sich brachte.
Zum Hintergrund: ich bin in Leipzig geboren und groß geworden. Irgendwann entschieden unsere Eltern, und sie sprachen sehr offen mit uns darüber, dass sie einen sogenannten Ausreiseantrag stellen wollten. Auf deutsch „Wir wollen dieses Land verlassen“! Das war 1987. Meine Eltern waren nie in der Partei, immer in der Kirche sehr engagiert, wir Kinder nie in kommunistischen Jugendorganisationen und im Sport feuerten wir Bayern München an und Deutschland (nie aber die DDR …) – insofern irgendwann ein logischer Schritt, vor allem, weil ein Teil unserer Familie dort schon lebte.
Meine Eltern engagierten sich in der Folge noch mehr als davor schon sehr in der ganzen Bewegung in Leipzig, ich war oft bei Friedensgebeten in der Nikolaikirche. Als Teenager war ich da also mittendrin. Die Mauer war mir sehr präsent vor Augen, wir waren oft in Berlin. Wir hatten einen klaren Freiheitsbegriff und unsere Eltern waren nie zurückhaltend, uns klar zu machen, was die wichtigen Werte im Leben sind und was sie von dem Land hielten, in dem wir lebten. Wir hatten als Familie unsere Entscheidung getroffen: an eine Veränderung glaubten wir nicht. „Den Sozialismus in seinem Lauf, hält weder Ochs noch Esel auf“ habe ich noch heute in den Ohren. Damit hier jedem klar ist, was das zB hieß: ich war immer ein guter Schüler, war aber eben kein „Pionier“ und auch nicht in der „FDJ“. Ich wollte auch nicht mindestens 3 Jahre in die NVA. Konsequenz: „Abitur kommt für Sie nicht in Frage!“.
Es kam anders, Gott sei Dank. Die Friedensgebete wurden noch mehr, Menschen gingen auf die Straße. Und Michael Gorbatschow hatte verstanden, dass der Sozialismus am Ende war. Es wurde also nicht militärisch eingegriffen – was für ein Wunder!
Wenn mir damals jemand gesagt hätte, dass ich 25 Jahre später in Berlin leben würde, in Ostberlin wohlgemerkt, ich hätte ihn für verrückt erklärt. Unser Ausreiseantrag wurde dann auch Anfang 1989 genehmigt. Ich musste als 15 jähriger Teenager meine notariell beglaubigte Zustimmung zum Ausreiseantrag geben. Hätte ich nicht zugestimmt, hätte man mich meinen Eltern weggenommen. Das ist tatsächlich in anderen Familien passiert – unfassbar. Meine Eltern waren damals 41, genauso alt, wie ich es heute bin. Und fingen noch mal bei Null an. Ich, wir als Familie, bereuen keinen Tag, den wir „früher“ im Westen waren. Es war unser Weg und es ist bis heute ein guter Weg gewesen.
So möchte ich Danke sagen, all den Menschen, die dafür gesorgt haben, dass dieses schreckliche Bauwerk und dieser menschenverachtende Staat nach so kurzer Zeit wieder Geschichte waren.
Meine Eltern: Leute, wie ihr, waren es, die nicht ruhig geworden sind, immer wieder auf die Mißstände in der DDR hinzuweisen, dagegen zu protestieren.Ihr habt Briefe geschrieben, Veranstaltungen organisiert, illegal Kalender mit Protestzitaten gedruckt, wart mit uns auf Demonstrationen. „Wir haben keine Angst“. „Ihr könnt uns nicht unser Recht auf freie Meinungsäußerung und Freiheit überhaupt nehmen“. Danke für Euren Mut! Danke für Eure Opferbereitschaft. Ihr habt für die Freiheit alles aufgegeben, was ihr hattet – denn ihr wolltet Freiheit für uns Kinder! Danke!
Allen Menschen in Leipzig, Berlin und dem Rest der DDR, die auf die Straße gingen: Danke für Euren Mut. Ihr ging auf die Straße und machtet Eurem Unmut Luft. „Wir sind das Volk“ – ihr seid bis heute Vorbild für so viele Menschen, die noch immer in unterdrückten Verhältnissen leben.
Michael Gorbatschow: er hatte verstanden, wie sehr der Sozialismus am Ende war und er war friedliebend genug, nicht noch mehr Leid zu verbreiten. Ich wünsche uns allen mehr Entscheider, die in ausweglosen Situationen, dass Vernünftige tun und nicht verbohrt mit dem Kopf durch die Wand wollen.
Helmut Kohl: man mag über Helmut Kohl denken, was man will. Aber er war der beste Mann in dieser Situation. Er hatte davor weiter Druck auf die DDR Oberen gemacht und ihnen klar gemacht, dass die Bundesrepublik nur bedingt der DDR aushelfen würde. Und als die Chance da war, hatte er die Vision und den unbedingten Willen die deutsche Einheit herbeizuführen. Wir alle haben das damals für unmöglich und für verrückt gehalten, aber er hat es geschafft. Wenn wir hier heute alle 25 Jahre später den Mauerfall im vereinigten Deutschland feiern können, in einem Berlin, das sich toll entwickelt hat zu einer der dynamischsten Städte der Welt, so haben wir das auch ihm zu verdanken – denn er glaubte an blühende Landschaften und die haben wir zweifelsohne hier in den letzten Jahren gehabt.
Die Freiheit ist unser höchstes Gut, dass wir beschützen und pflegen müssen. Freiheit, dass jeder dorthin kann, wohin er will. Wir dürfen Flüchtlinge nicht ablehnen: wer hier leben will, soll hier leben können. Freizügigkeit in der EU darf niemals eingeschränkt werden. Freiheit zu demonstrieren, egal wofür oder wogegen. Auch wenn das manchmal wirklich anstrengend ist, und sicher oft auch für Themen demonstriert wird, die ich sehr anders sehe. Egal, wer demonstrieren will, soll demonstrieren können! Freiheit zu wählen – da muss ich wohl nicht viel zu sagen. Ich habe hier übrigens nur sehr wenig Toleranz für Menschen, die von Ihrem Wahlrecht keinen Gebrauch machen. “ Es ändert sich doch sowieso nichts“. Ja, das haben wir in der DDR auch oft gedacht, aber wir haben die Hoffnung nie aufgegeben und uns immer wieder engagiert (nicht ich, aber meine Eltern und viele tausende andere). Also geht wählen und engagiert Euch – nur dann ändert sich etwas.
Noch 3 Jahre, dann haben wir alle schon mehr Jahre ohne Mauer erlebt, als mit Mauer. Unfassbar, einfach unfassbar. Wir dürfen die Hoffnung nie aufgeben, dass sich die Dinge zum Besseren wenden und dass wir etwas verändern können. Yes, we can. Auch wenn es viele Jahre dauert. Irgendwann ist es soweit. Heute ist ein Tag an dem wir auch das feiern!